Date sent: Thu, 08 Feb 1996 05:52:16 +0200 To: lovkraft@hvision.nl Name: SOZIAL.TXT Uploader: Robert Mihelli EMail: Robert.Podvezanec@post.rwth-aachen.de Language: German Subject: Social-Economic history Title: Soziale Sicherung im 18./19. Jahrhundert : Soziale Sicherung aus staatlicher Sicht (Preußen/ Deutsches Reich) Grade: 86% System: College Age: 20 years old (when handed in) Country: Germany Comments: Essay explaining the social security systems and its beginning in the last centuries (the first system of his kind in the world) in germany (yep, it started here) Where I got Evil House of Cheat Address: some newsgroup (can´t remember which) Soziale Sicherung im 18./19. Jahrhundert : Soziale Sicherung aus staatlicher Sicht (Preußen/ Deutsches Reich) 1. Einleitung Der Darstellungsbereich ist im wesentlichen auf das Gebiet Preußens und des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1871 beschränkt, weil dieser Bereich am Anfang des 19. Jahrhunderts weitgehend festgelegt war und sich mit geringfügigen Änderungen bis nach dem Ersten Weltkrieg erhalten hat. Der Zeitraum umfaßt das Ende des 18. Jahrhunderts bis zu den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts, da hier die ersten konkreten Maßnahmen der sozialen Sicherung des Staates zu finden sind. 2. Der Begriff Unter der sozialen Sicherung versteht man sozialpolitische Leistungen fast aller Bevölkerungsgruppen, die bestimmte wirtschaftliche und soziale Existenzrisiken, wie zum Beispiel Krankheit, Unfall, Invalidität, Arbeitslosigkeit, oder Alter, absichern sollen. Sie entstand als ein wohlfahrtsstaatliches System daß mit der Zeit unterschiedlich ausgeprägt wurde. Als Grundform könnte man den Versicherungs- , Versorgungs- , und Fürsorgeprinzip unterscheiden. Das Versicherungsprinzip ermöglicht beim Eintreten des Risikofalles, aufgrund besonderer Beiträge, generell feststehende Geldleistungen; es ist eine Form der Selbsthilfe. Im Falle des Versorgungsprinzips erhält der Sicherungsbedürftige von den Staat festgelegte Bezüge ohne eigene Beitragsleistung, und diese Bezüge werden von Steuereinnahmen finanziert. Beim Fürsorgeprinzip wird die Unterhaltshilfe gewährt insoweit die Bedürftigkeit vorliegt. 3. Der Wohlfahrtsstaat Im 18. Jahrhundert war der Merkantilismus die dominierende Wirtschaftsform des absolutistischen Staates. Der Staat erlaubte und förderte die Entwicklung der Manufakturen, um ausreichende Steuereinkünfte und Exportüberschüsse zu erhalten und um damit den Staatshaushalt zu finanzieren. Das Gewerbemonopol der städtischen Zünfte wurde als störend empfunden, da diese die freie großgewerbliche Produktion nicht erlaubten, da sie Fest- und Feiertagsregelungen hatten, blaue Montage, bedarfsorientierte Arbeitszeiten. Die Zünfte unterwarf man der staatlichen Regulierung, und ihre Rechte schränkte man mit der Zeit immer mehr ein, was zu ihrem Verfall führte. Das hatte zur Folge, daß die früher übliche gegenseitige Vorsorge der Handwerker und Fürsorge für erkrankte Gesellen vollkommen verschwanden. Da verpflichtete der Staat die Handwerker, Grund- und Gutsherren sowie die Heimatgemeinde (“Arbeitgeber") subsidiär die existenznotwendigen Bedürfnisse abzusichern. Durch die Regulierung des allgemeinen Korn- und Schlachtrichthandels versuchte der Staat für eine auskömmliche Nahrung zu sorgen, primär für die nichtbäuerliche Bevölkerung. Ferner versuchte der Staat auch für ausreichende Arbeit zu sorgen und Entlassungen zu reduzieren. Die eigentliche Arbeiterschutzgesetzgebung beginnt aber erst am Ende des 18. Jahrhunderts. Die ersten Grundsätze, Rechte und Pflichten der Lehrlinge und Gesellen sowie der sozialen Fürsorge brachte das preußische Allgemeine Landrecht von 1794. 4. Das Allgemeine Landrecht Die Bedeutung des Allgemeinen Landrechts, das am 1. Juni 1794 als Grundgesetz des preußischen Staates in Kraft trat, lag in erster Linie darin, daß mit dieser Kodifikation eine umfassende Rechtsordnung geschaffen war, die dann in wesentlichen Teilen das ganze 19. Jahrhundert seine Geltungskraft behielt. Ausgenommen blieben das Prozeßrecht und das Militärrecht. Im Allgemeinen Landrecht wurde als Prinzip anerkannt, daß der Staat für die Wohlfahrt seiner Bürger verantwortlich war. Es bestimmte, daß Arbeitslosen geeignete Arbeiten zugewiesen und Arbeitsscheue durch Zwang und Strafen unter Aufsicht zu nützlichen Arbeiten angehalten werden sollten. Die Sorge des Staates bestand nicht in der Armenpflege selbst, sondern darin, daß der Staat die Arbeitgeber sowie die Stadt und Dorfgemeinden zu Leistungen verpflichtete. Dabei wurde schon auch die Differenzierung der Armen nach jenen vorgenommen, die von der Gemeinde zu unterstützen waren, und anderen, welche durch Vermittlung des Staates in öffentlichen Landarmenhäusern untergebracht werden sollten. Die Gemeinden hatten danach diejenigen Hilfsbedürftigen zu unterstützen, die von ihnen als Bürger aufgenommen worden waren oder die zu den gemeinen Lasten der Gemeinde beigetragen hatten. Zur Durchführung dieser Vorschriften wurden neben den kommunalen Armenverbänden Landarmenverbände errichtet, die subsidiär eintraten, sofern die einzelnen Gemeinden nicht in der Lage waren, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Obwohl das Allgemeine Landrecht die Bildungsreform vorbereitet hatte, galt die allgemeine Schulpflicht erst seit dem 14. Mai 1825 (aufgrund einer Kabinettsorde) auch in den Provinzen Preußens, die bis dahin außerhalb des Geltungsbereichs des Allgemeinen Landrechts gestanden hatten. Der Staat beanspruchte die allgemeine Schulhoheit für sich, erlaubte aber daß auf private Initiative hin Fabriks-, Sonntags- und Abendschulen entstanden, deren Besuch vom öffentlichen Elementarschulunterricht befreite. Der Hintergedanke der Unternehmer die diese Fabrikschulen einrichteten war, Kinder als billige Arbeitskräfte zu bekommen. Im Allgemeinen Landrecht entstand zum ersten mal der Grundsatz, daß niemand vom Schutz bei Armut ausgenommen werden sollte. Die neuen Gesellschafts- und Staatsideen führten zum sogenannten aufgeklärten Absolutismus, das ein neues Verständnis von der Rolle des Staates bekam. Der Aufkommeden Liberalismus sprengte die Begrenzungen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Die liberalen Reformen Dem merkantilistisch-absolutistischen Staat waren in der Landwirtschaft enge Grenzen gesetzt und deshalb konzentrierte man sich auf die Manufakturen; aber nach dem Vordringen des Liberalismus in Deutschland fanden die entscheidenden Reformen in der Landwirtsschaft statt (etwa 80 % der Bevölkerung lebte am Anfang des 19. Jahrhunderts auf dem Lande). In Preußen wurde die Erbuntertänigkeit bei erblichen Besitzrechten ab 09.10.1807 und ab 11.11.1810 bei den nichterblichen Besitzrechten aufgehoben. Die Bauernbefreiung schuf entscheidende Vorraussetzungen für die Ausdehnung der landwirtschaftlichen Produktion (individuelle Nutzung wurde ergiebiger, veränderte Produktionsmethoden erhöhten die Produktivität) führte aber auch dazu, daß viele nunmehr persönlich freie Bauern sozial und wirtschaftlich verelendeten. Die Freiheit wurde zur existenziellen Unsicherheit, weil der bisher geltende herrschaftliche Versorgungszugang entfiel. Die Ablösungszahlung der Bauern sollte eine zeitweilige Einnahmequelle zur Beseitigung der Kriegsverschuldung sein und es sollte die Staatseinahmen durch die Zunahme des allgemeinen Volkswohlstandes anheben. Zusammen mit den hohen Ablösungsvorderungen brachten die Landabtretungen viele Bauern, vor allem während der Agrarkrise der 20er Jahre des 19. Jahrhundert, in große wirtschaftliche Schwierigkeiten, zum einen weil die Kreditinstitutionen zur Erleichterung der Regulierung und Ablösung fehlten. Da der frühere Bauernschutz (Remissionen, Schutz vor Aufkauf durch Grundherren, ) weggefallen war, konnten die Gutsbesitzer viele der verschuldeten und in Bedrängnis geratenen Bauernhöfe durch privatrechtlichen Vertrag erwerben und so ihren Besitz ausdehnen. Aus den Bauern wurden abhängige Landarbeiter, ein wesentlicher Teil wanderte in die Städte ab und bildete dort ein Reservoir ungelernter Arbeitskräfte. Einen gewissen formellen Abschluß erfuhr die Bauernbefreiung erst Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Gerichtsbarkeit der Feudalherren über ihre Unterta nen (die Patrimonialgerichtsbarkeit) abgeschafft und die früheren Ablösungsregelungen zugunsten der Bauern korrigiert wurden. Man beseitigte das Prinzip der Landesentschädigung, schuf die sogenannten Rentenbanken,d.h. staatliche Bankinstitute, die den selbständigen Bauern helfen sollten, ihren Ablösungsverpflichtungen nachkommen zu können. In der Zeit trat schon die Industrialisierungsphase ein und die allgemeine wirtschaftliche Situation war wesentlich besser als am Anfang des 19. Jahrhunderts. 6. Der Kinderschutz Die Löhne am Beginn des 19. Jahrhundert ermöglichten kaum die Sicherung des Existenzminimums, und nur ein Teil der verfügbaren Arbeitskräfte bekam Arbeit. Von den Familien wurden Frauen und Kinder zur Arbeit geschickt, um ein bestimmtes Mindesteinkommen zu realisieren. Damit nahm der Druck auf die Löhne noch weiter zu, denn die Kinder- und Frauenarbeit war billiger (Frauenlöhne machten etwa 50 bis 66 % der Männerlöhne aus). In den 20er Jahren bemühte sich der preußische Kultusminister von Altenstein die Aufmerksamkeit auf die Lage der Kinder in den Industriebezirken Preußens zu lenken; der Generalleutnant von Horn klagte einige Jahre später über die mangelnde Tauglichkeit der Rekruten aus den Fabrikgegenden infolge früher körperlichen Überlastung und Nachtarbeit. 1837 bat der Rheinische Provinzreichstag um ein Schutzgesetz für die in den Fabriken arbeitenden Kinder nachdem auch der Fabrikant Schuchard aus Barmen ein Kinderschutzgesetz gefordert hatte. Daraufhin wurde am 9. März 1839 das Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken erlassen. Der Staat griff erstmals direkt in die Regelung der Arbeitsverhältnisse in Deutschland ein. Die wichtigsten Bestimmungen waren das generelle Verbot der regelmäßigen Beschäftigung von Kindern unter 9 Jahren in Fabriken, Berg-, Hütten- und Pochwerken; vor dem vollendeten 16. Lebensjahr konnte man nur nach Nachweis eines regelmäßigen dreijährigen Schulunterrichts arbeiten; die Arbeitszeit für Jugendliche bis zu 16 Jahren wurde auf , bei einem gleichzeitigen Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit sowie der Nachtarbeit zwischen 21 und 5 Uhr, 10 Stunden gekürzt. Zwischen den Arbeitszeiten mußten insgesamt 1 1/2 Stunden Pausen vorkommen; man verlangte die Führung von Arbeitsverzeichnissen für Kinder und führte Höchstbußen von 5 Taler für jede gesetzwidrig verwendete Person ein. Bei der zweiten Verletzung der Vorschrift waren es 50 Taler, was im Vergleich zum Jahreslohn eines Arbeiters um die 80 Taler als zu gering zu betrachten war, und ein Jugendlicher für die gleiche Arbeit mit nur 30 Talern entlohnt wurde. Es lohnte sich für den Unternehmer, einen Jugendlichen einzustellen, da selbst bei der Höchststrafe im Wiederholungsfall die Strafe dem Jahreseinkommen eines Arbeiter glich. Eine besondere Gewerbeaufsicht neben der Ortspolizei war in dem Gesetz nicht vorgesehen; die Strafen bei Zuwiderhandlung waren zu niedrig und damit nicht abschreckend, so daß die Eltern aufgrund der bestehenden Massenverelendung die staatlichen Maßnahmen kaum unterstützten. Die Ausnahmeregelungen zugunsten der Unternehmer (zum Beispiel konnte die Schulpflichtbestimmung durch Errichtung einer Fabrikschule umgehen werden) machten das Regulativ faktisch bedeutungslos. 1845 wurden durch Ministerialerlaß “Lokalkommisionen" für die Aufsicht über die Einhaltung der Schutzvorschriften eingeführt; ab den 16.05.1853 war die Beschäftigung von Kindern unter 12 Jahren verboten; Kindern bis 14 Jahren verkürzte man die Arbeitszeit auf 6 Stunden; eine fakultative Fabrikinspektion wurde eingeführt, und die Fabrikinspektoren fungierten als Organe der Staatsbehörde mit polizeilichen Befugnissen. In der Zeit von 1846 bis 1858 ging im preußischen Staat die Zahl der in Fabriken beschäftigten Kinder (Altersgruppe 8 bis 14 Jahre) von 31. 064 auf 12.592 zurück. Ein Nebeneffekt war daß im gleichen Zeitraum (1846 bis 1858) die Zahl der Fabrikarbeiterinnen von 57.269 auf 86.868 stieg. Der Frauenschutz beschränkte sich auf das Verbot der Tätigkeit in Bergwerken und anderen Arbeitsstätten mit schwersten Arbeitsbedingungen. 7. Der Lohnschutz Anders als bei Kindern und Jugendlichen sah der Staat zunächst keine besondere Notwendigkeit, auch die erwachsenen gewerblichen Arbeiter durch gesetzliche Maßnahmen gegen die mißbräuchliche und gesundheitsschädigende Ausnutzung ihrer Arbeitskraft zu schützen. Der Lohn wurde vielfach in Waren ausgezahlt, oder der Arbeiter erhielt den Vorschuß in Waren, die ihm bei der Lohnzahlung abgezogen wurden. Dieses Trucksystem bedeutete eine zusätzliche Ausbeutung, da die Verrechnung der Preise der Waren meistens Überhöht waren, die Ware fehlerhaft oder für den Lebensunterhalt unbrauchbar. Daneben gab es Regelungen, bestimmte Teile des Lohnes in Unternehmenseigenen Schankwirtschaften und Kaufläden auszugeben. Die Anregung, das Trucksystem zu verbieten, bestand schon in den 30er Jahren , es wurde aber erst, nachdem sich alle Handelskammern der Rheinprovinz für ein Truckverbot ausgesprochen hatten, und nachdem die preußische Nationalversammlung in 1848 den ersten Entwurf bereitstellte, am 9. Februar 1849 verboten. Wer sich nicht daran hielt, mußte mit einer Geldbuße von 50 Talern rechnen. Damit begann der Lohnschutz. Diese Gewerbeordnung wurde dann auch später in die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes in 1869 aufgenommen, und im Deutschen Reich war es 1878 erweitert worden. 8. Die allgemeinen Gewerbeordnungen 1845/49 Der Edikt über die Einführung der allgemeinen Gewerbesteuer vom 28. Oktober 1810 wurde die Gewerbefreiheit in Preußen verordnet und jeder konnte den von ihm erstrebten Beruf ausüben. Ab 1820 wurde für die Zulässigkeit eines Gewerbebetriebes nur eine Anzeige bei der Orts- und Kommunalbehörde notwendig. Mit der Allgemeinen Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845 wurde die Gewerbefreiheit auf das gesamte Staatsgebiet ausgedehnt. Die Beschränkungen wie zum Beispiel noch bestehende Konzessionsbefugnisse, Zwangs- und Bannrechte oder örtliche Beschränkungen einzelner Gewerbe, wurden aufgehoben. Die Gewerbetreibenden konnten sich in Innungen zusammenschließen, wurden aber unter die staatliche Oberaufsicht gestellt. Die Innungen förderten gemeinsame gewerbliche Interessen, hatten Aufgaben wie die Beaufsichtigung des Lehringswesens, die Verwaltung der Innungsunterstützungskassen sowie die Fürsorge für Witwen und Waisen der Innungsgenossen. Die Handwerker förderten zusätzlich die Beseitigung der Gewerbefreiheit, aber da ging der Staat auf die Wünsche nicht ein. Die Gewerbeordnung ließ die Koalitionsverbote des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, in welchen Arbeitskampfmaßnahmen und Aufforderungen zum Arbeitskampf verboten wurden, fortbestehen. Die Gewerbeordnung von 1845 gestattete die Beibehaltung und Neubildung gewerblicher Unterstützungskassen auch für Arbeiter, ohne Bestimmungen in bezug auf die Organisationsform, die Leistungen und die Finanzierung. Durch statutarische Anordnung konnten die Gemeinden alle am Ort beschäftigten Gesellen und Gehilfen zum Beitritt verpflichten, aber dieses Recht wurde nicht angewandt. Ab 1849 bestand die Möglichkeit durch Ortsstatuten die Arbeitgeber zu Zuschüssen bis zur halben Höhe der Arbeitnehmerbeiträge zu verpflichten, und den Förderungen der Handwerker kam man entgegen. Für einige Gewerbezweige wurde die Eröffnung des selbständigen Gewerbebetriebes nur noch gestattet, wenn der Handwerker aufgrund eines Befähigungsnachweises in die Innung aufgenommen war oder ein Befähigungsnachweis vor einer Prüfungskommission seines Handwerks nachweisen konnte. 1854 wurde das Gesetz betreffend die gewerblichen Unterstützungskassen erlassen. Es ermächtigte die Bezirksregierungen , im Bedürfnisfalle den Kassenzwang einzuführen. Nur selten wurde von diesem Recht Gebrauch gemacht. 9. Die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund Die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund von 21. Juni 1869 brachte die in den erwähnten preußischen Regulativen und Gesetzen enthaltenen Grundsätze über den Kinder- und Arbeiterschutz (Trucksystem) auch in den übrigen Staaten des 1866 entstandenen Norddeutschen Bundes zur Geltung. Aus dem sächsischen Recht wurde zusätzlichdie Bestimmung über den Betriebs- und Gefahrenschutz eingeführt, die jeden Gewerbeunternehmer verpflichtete, die entsprechenden Maßnahmen auf seine Kosten herzustellen und zu unterhalten. Dazu wurde beschloßen, daß niemand verpflichtet werden konnte, an Sonn- und Feiertagen zu arbeiten. Mindestschutzbestimmungen für Frauen enthielten die Gewerbeordnungen der einzelnen Länder (zum Beispiel Preußen 1845, Sachsen 1861, Württemberg 1861, Baden 1862, Bayern 1868), aber in dieser Gewerbeordnung wurden die Anträge auf Einführung eines 8-Stunden-Normalarbeitstages für Frauen und auf eine Wöchenrinnenschutzfrist noch abgelehnt. Die Gewerbeordnung brachte schließlich mit der allgemeinen Anerkennung der Freiheit des Arbeitsvertrages auch die Koalitionsfreiheit, d.h. die endgültige Erlaubnis der Verbindung zu “Arbeitseinstellungen" (Streiks) für die gewerblichen Arbeiter, aber verbunden mit bestimmten Strafbestimmungen. 10. Soziale Sicherheit im Kaiserreich Die gesetzliche Krankenversicherung, die 1883 in Kraft trat, erfaßte die Personen in Industrie, Handwerk, Handel, Binnenschiffahrt und in bestimmten Dienstleistungsbetrieben. Die Beiträge wurden zu 2/3 von den Arbeitern, zu 1/3 von den Arbeitgebern aufgebracht; als Leistungen wurden freie ärztliche Behandlung, unentgeltliche Versorgung mit Arzneimitteln und Krankengeld bei Arbeitsunfäfigkeit durch Krankheit für 13, später 26 Wochen, vorgesehen. Alle Arbeiter und Angestellten die unter 2000 Mark Jahreseinkommen hatten, mußten, so das Unfallversicherunggesetz vom 06.07.1884, von den Unternehmer gegen Unfälle versichert sein. Die Unfallentschädigung würde gewährt bei Unfällen mit tödlichem Ausgang (Begräbniskosten und Hinterbliebene), Arbeitsunfähigkeit (Lohnausfall und Arztkosten - nach der Krankenversicherung - ab der 14 Woche) und Invalidität (Renten). Das Invaliditäts- und Alterssicherungsgesetz (1889) machte alle Arbeiter vom 16. Lebensjahr an versicherungspflichtig. Die Mittel der Versicherung wurden durch einen Reichszuschuß und durch gleich hohe Beiträge der Arbeitgeber und der Versicherten aufgebracht. Ein Rentenanspruch entstand, wenn der Versicherte erwerbsunfähig wurde und fünf Beitragsjahre zurückgelegt hatte, oder wenn er das 70. Lebensjahr vollendet und dreißig Beitragsjahre zurückgelegt hatte. 11. Das Arbeiterschutzgesetz Für das deutsche Reich wurde zunächst die Gewerbeordnung vom 21.06.1869 (zuerst für den Norddeutschen Bund) die maßgebende Rechtsgrundlage. Ihre Arbeitsschutzvorschriften stellten zunächst eine Zusammenfassung der bisherigen Vorschriften dar. Sie wurden dann aber durch zahlreiche Novellen erheblich erweitert; so wurde 1879 endgültig die obligatorische staatliche Gewerbeaufsicht eingeführt. Die wichtigste Novelle ist das Gesetz betreffend der Abänderung der Gewerbeordnung vom 1. 6. 1891 (Arbeiterschutzgesetz). Es brachte weitere Beschränkungen der Beschäftigung von jugendlichen Arbeiter in Fabriken, nämlich ein Beschäftigungsverbot für Kinder unter 13 Jahren und eine Beschränkung der Arbeitszeit für "junge Leute" zwischen 14 und 16 Jahren auf 10 Stunden. Die Vorschriften über Sonntagsruhe wurden verstärkt, und für größere Betriebe wurde eine verpflichtende Arbeitsordnung eingeführt, die einige Bestimmungen über den Arbeitsschutz enthalten mußte. Für die Frauen war die Höchstarbeitszeit 11 Stunden, Nachtarbeit war grundsetzlich Verboten und ein Wöcherinnenschutz von 4 Wochen wurde eingeführt. 12. Schlußwort Im Merkantilistischen Zeitalter hatte der immer anwesende Staat seine Ziele verfolgt; in dem Liberalismus und der postnapoleonischen Ära schränkte er sich ein und blieb fast inaktiv bis es notwendig wurde beim Kinderschutz einzugreifen. Kinderarbeit und auch Frauenarbeit sind keine Produkte der Industrialisierung, sie wurden aber hier besonders ausgeprägt. Und es ist meistens die erste industrielle Blüte eines Landes, die die Notwendigkeit staatlichen Eingriffs auf diesem Gebiete hervorruft. Und je mehr die Entwicklung und mit ihr auch der Wohlstand wächst, wird sich auch der Staat mehr Zeit nehmen um zu Helfen. Dabei muß man bedenken daß es sich in der staatlicher Sozialpolitik eben nicht um reine Hilfe handelt, sondern zum guten Teil um politische Maßnahmen staatlicher Selbsterhaltung. 13. Literatur: Frerich, Johannes/ Frey, Martin: Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Band 1: Von der vorindustriellen Zeit bis zum Ende des Dritten Reiches, 1. Auflage, München/ Wien/Oldenburg 1993. Gladen, Albin: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, 1. Auflage, Wiesbaden 1974. Henning, Friedrich Wilhelm: Die Industrialisierung in Deutschland 1800 bis 1914, 1. Auflage, Paderborn 1973. Henning, Hansjoachim: Sozialgeschichtliche Entwicklungen in Deutschland von 1815 bis 1860, Paderborn 1984. Hentschel, Volker: Die Arbeiterfrage im preußischen Abgeordnetenhaus 1848-1869, 1. Auflage, Berlin 1978. Hentschel, Volker: Geschichte der deutschen Sozialpolitik (1880-1980), 1. Auflage, Frankfurt/M. 1983. Lampert, Heinz: Lehrbuch der Sozialpolitik, 1. Auflage, Berlin/Heidelberg 1985. Leopold von Wiese: Einführung in die Sozialpolitik, 2. Auflage, Leipzig 1921. Ritter, Gerhard: Der Sozialstaat, Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 2. Auflage, München 1991. Tennstedt, Florian: Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Deutschland: vom 18. Jahrhundert bis zu Ersten Weltkrieg, 1. Auflage, Göttingen 1981.